Weine mit Balance und Patriotismus im Glas
Der Falstaff Sommelier des Jahres 2020, Markus Gould, ist sich sicher, dass sich die Monate des gastronomischen Stillstands auf die Sommelerie auswirken wird. Aber wie? Das lest ihr hier!
Vielleicht ist es ein Stochern im Trüben oder auch eine falsche Prognose – aber immerhin hat in Österreich 1985 mit dem sogenannten „Weinskandal“ ein singuläres Ereignis die Weinwelt auf den Kopf gestellt und die Konsumenten waren plötzlich argwöhnisch beim Anflug von Zucker im Wein. Dieses geänderte Konsumverhalten hat letztendlich auch Realität generiert. Und dass sich unsere Branche nach einem einschneidenden Ereignis wie Corona samt den monatelangen Lockdowns verändern wird, dürfte klar sein. Die Frage ist nur wie…
Kriege und Krisen hatten schon immer auch Einfluss auf die Ernährung. Und das schlägt sich langsam aber doch im kulturellen Geschmack nieder, wie zum Beispiel im Erbgut wie die Epigenetik weiß. So verändert etwa Hunger die DNA. In Zeiten des Hungers ist der Geschmack zweitrangig. Davon sind wir aber zum Glück noch weit entfernt. In der Nachkriegszeit wurde etwa das Fleischessen überhöht und galt als Statussymbol, mittlerweile ist in den Industriestaaten der sogenannten „Peak Meat“ erreicht und da und dort sogar zart rückläufig.

Ich denke, dass die derzeitig erzwungenen Verhaltensweisen im Lockdown manche Muster ändern bzw. verstärken…
Meine Top-5-Thesen:
1.) Mehr Wertschätzung für die Sommelerie
Der Trend zu natürlicher, selbstbewusster, ökologischer, regionaler sowie verstärkt pflanzenbasierter Ernährung wird bestehen bleiben und eher zunehmen. Mehr Zeit zuhause und Selberkochen bedeutet automatisch auch mehr Auseinandersetzung mit Lebensmitteln, Reflexion über Herkunft und Wertschöpfungsketten und am Ende des Tages vielleicht sogar eine gesteigerte Wertschätzung für das Schaffen der Gastronomie und auch der Sommelerie (jeweils eine intellektuelle Basisausstattung vorausgesetzt). Die plötzliche Lust am Brotbacken wird sich wohl irgendwie niederschlagen.
2.) Erhöhte Aufmerksamkeit für Weinbegleitungen
Die Preissensibilität ist in der Masse ganz leicht gestiegen, wobei es (außer akut bei Lockdown-Beginn) keine Verschiebungen hin zu Vorratshaltung gegeben hat, und auch die Weintrinker blieben gleichbleibend neugierig und haben nicht auf Hamsterkäufe gesetzt und auf den Modus des „Wirkungstrinkens“ geschaltet. Interessanterweise stellen die Konsumenten beim Einkauf bei uns im Heunisch&Erben derzeit noch präzisere Fragen bezüglich Foodpairings. Das ist für mich ein verständlicher Schritt, können sie gegenwärtig doch im Restaurantumfeld diesbezüglich nicht an der Hand genommen werden. Das könnte in Zukunft ein Gewinn für die Sommelerie sein.

3.) Gefahr für die Diversität
Wirklich nicht unterschätzt werden sollte das Wegfallen des Reisens: Wer nicht mehr die kulturellen Grenzen überschreitet, der kann seinen individuellen Horizont nicht verändern, kann nicht erfahren, wie eine Mango (eigentlich) schmecken sollte und wird am Ende des Lebens vielleicht auch glauben, eine Kuh sei lila. Auf Dauer gesehen sehe ich darin eine Gefahr für die Diversität!
Trends werden verstärkt
4.) Weine mit Balance weiter im Vormarsch
In Zeiten der „Unruhe“ sehnen wir uns immer mehr nach Balance. Das verstärkt einen Trend, den es in der Weinbranche seit Jahren gibt: Weine dürfen mit Balance und Eleganz bestechen. Die Winzer werden sich zunehmend um schlanke Weine bemühen, die Reife ist längst kein Thema mehr! Tags wie “Vinos Atlanticos” (Envinate Teneriffa) oder “Alpiner Wein” klingen jedes Jahr verlockender. Eine hoffentlich unumkehrbare Entwicklung – oder wieviele „Sine Qua Non“ trinkende Porschefahrer unter 35 kennt man heutzutage?
5.) Patriotismus im Glas
Laut der Statistik von Gastrodata/ÖWM von September 2020 hat der Heimkonsum von Wein in den Monaten Jänner bis September 2020 (also inklusive Lockdown) um 23,7% zugenommen, der Anteil österreichischer Weine jedoch 30,7%. Die Leute werden ergo also noch ein bisschen patriotischer im Glas. Ein Lichtblick auch für die vielen heimischen Winzer!