
Gereifte Gedanken und alte Weine

Ein paar Gedanken zu gereiften Jahrgängen und warum sie automatisch nicht nur große Ehrfurcht, sondern auch viele Fragen aufwerfen. Zum Beispiel: Hat den Wein ein Nazi gesammelt? Und wie schmeckt ein 1934er überhaupt?
Es ist so ein Superlativ, den wohl jeder und jede automatisch im Kopf hat. Weil selbst wenn man in Beruf und Alltag oft Wein verkostet: Richtig gereifte Weine sind immer etwas Besonderes. Den aktuell ältesten Wein, den man verkostet hat, merkt man sich. Bis ein noch früherer Jahrgang daherkommt zumindest.
Für mich persönlich war das lange das Geburtsjahr meines Vaters. Ein großer Burgunder aus Nuits-Saint-Georges, wo ich mittlerweile schon durchgefahren bin. 1955. Die Verkostung fand nämlich am Tag des Heiligen Georg statt und da versammelt Kollege Jürgen Schmücking immer alles, was mit Georg und Jürgen zu tun hat. Das war am 24. April 2018.
Gekeltert vor dem zweiten Weltkrieg
Unlängst musste ich meine Rangordnung neu aufstellten. Und wieder war Jürgen Schmücking „Schuld” daran. Ich bin noch immer perplex vor Freude über diese Gelegenheit. Es ging noch einmal mehr als 20 Jahre zurück in der Zeit.

1934! – Ein Wein, vor dem 2. Weltkrieg. Da ist schon Umami da bei Pichon-Comtesse. Und ein zartes Veilchen, Galgant-Gewürz, etwas schwarze Ribisel. Vergleichsweise wirkt der Castillo Ygay Gran Reserva erfrischend, mit einer Kokos-Note, bilde ich mir ein. Was hat diese eine Flasche, die Julius Neubauer bei der Veranstaltung von Trinkreif aufgemacht hat, alles erlebt? Der mystische Rioja war immerhin bis 1972 im Faß, dann kurz in der Flasche und ab 1975 am Markt. Oder der Jahrgang 1938 vom Chateau Cheval Blanc. Ein toller, erdig-fruchtiger Wein, der 1986 neu verkorkt wurde.
Wie hat man vor so langer Zeit überhaupt Wein gemacht? Was hat sich der Kellermeister gedacht? Wie sahen die Weingärten aus? Wie waren die Weingüter damals aufgestellt?

Im braunen Glas einer Bouteille (auch das für mich bemerkenswert) sind kleine Luftbläschen eingeschlossen. Ich stell mir vor, sie enthalten Geheimnisse: Wer ist wie zu der Flasche gekommen? Ist nur das Glas braun oder war es auch die Gesinnung so mancher Besitzer? Hat sie jemand versteckt? In einer Kiste im Waldboden vergraben? Wurde sie aus einem Keller gestohlen? Die eigentlichen Besitzer enteignet? Wäre er für eine Siegesfeier gedacht gewesen? Welche Gespräche hat diese Flasche mitbekommen? Gibt es so etwas wie Provenienzforschung bei Wein?
Es war die erste Altweinverkostung vom auf gereifte Raritäten spezialisierten Weinhandel „Trinkreif” und der Name ist Programm, der Fokus liegt auf dem Bordeaux und Spanien:
- Chateau La Mission Haut Brion 1953
- Chateau Latour a Pomerol 1953
- Chateau Pichon Comtesse 1934
- Castillo Ygay Gran Reserva Especial 1934
- Chateau Cheval Blanc 1938
- Lopez de Heradia Vina Tondonia Gran Reserva 1947
- Chateau La Mission Haut Brion 1950
- CVNE Vina Real Reserva Especial 1951
Geteilte Spannung, gemeinsames Staunen
Hoffentlich gibt es noch mehr solche Abende. Denn: Was für eine einzigartige Gelegenheit! Danke allen für diese Erfahrung und Wissenserweiterung! Diese Dimensionen machen einen ganz demütig. Gereifte Weine versprechen immer einen besonderen Moment. Man öffnet sie schließlich nie alltäglich und teilt den Moment, die Spannung und das Stauen immer mit anderen Menschen.
Wie kurz ist unsere Zeit auf Erden, überdauert uns so mancher Rebstock und so manche Flasche? Das macht einen ehrfürchtig und die Weine unvergänglich, unvergesslich.
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Juliane Fischer ist ein born and raised Wein- und Obstbauernkind. In einem warmen Spätsommer, rechtzeitig vor Erntebeginn in Niederösterreich, beschloss sie auf die Welt zu kommen. Seit 11 Jahren arbeitet sie als freie Journalistin und zum Ausgleich in ihrem Weingarten. Fischer studierte Literaturwissenschaft und Austrian Studies in Wien, Salzburg und Umeå, Schweden. Sie schreibt vorallem zu den Themen Kultur, Agrarpolitik und Kulinarik und – wie könnte es anders sein – über Wein.
